Neulich unterm Josuabaum: U2 im römischen Stadio Olimpico

by - Juli 23, 2017


Das erste Konzert meines Freundes war im Jahr 1987 ein Besuch bei U2, die damals bei ihrer Tournee zum aktuellen Album "The Joshua Tree" im Kölner Müngersdorfer Stadion auftraten. Mein erstes Konzert war übrigens, wie ich in diesem Blog schon öfters erwähnte, ebenfalls 1987: Depeche Mode, auch in Köln, aber in der Sporthalle, und das damalige aktuelle Album war "Music for the Masses".


Zwei exzellente Entscheidungen hinsichtlich der Wahl des ersten Konzertes, zwei ebenso exzellente Alben. Allerdings machen nur U2 anlässlich dieses Jubiläums (ihnen geht es natürlich nicht um das Kölner Konzert, sondern das Album an sich) nun eine Tournee, bei der sie "The Joshua Tree" komplett spielen - Depeche Mode dagegen veröffentlichen einfach Album um Album, dabei hätte auch bei dieser Band ein Jubiläumskonzert, bei dem ein ganzes altes Album gespielt würde, eine Erfolgsgarantie. Diese Umstände - neues und altes Album zweier Bands aus der Jugend - führen auch dazu, dass ich dieses Jahr statt der ansonsten angepeilten Zahl von null Stadionkonzerten (zu groß, zu viele Leute, zu schlechte Sicht auf die Musiker) gleich zwei besuche.


Für meinen Freund war das zweite große Argument für den Konzertbesuch die Vorband, die U2 bei den Auftritten in Europa begleiten sollte, nämlich Noel Gallagher's High Flying Birds. Er ist vermutlich der größte existierende Noel-Fan (zumindest der größte, den ich kenne) und wollte sich die Chance, sein Idol auch dieses Jahr live zu sehen, ohnehin nicht entgehen lassen. Es blieb also nur noch die Frage nach dem Ort des Geschehens, und nachdem man mir derartige Aktionen am besten in Kombination mit einem Urlaub verkaufen kann, planten wir eben eine Romreise.


Letzten Sonntag war es nun so weit, U2 gastierten an zwei Abenden hintereinander im Stadio Olimpico, wir hatten Tickets für den zweiten. Bei einem derart großen Event rechnet man natürlich mit einer längeren Einlassschlange, ganz so krass, wie sie tatsächlich wurde, hatten wir sie uns jedoch nicht vorgestellt: Die Besucher mit Tickets für den normalen Innenraum mussten sich in einem abgeriegelten Bereich anstellen, in dem man dann eingepfercht wartete... und wartete... während die Schlange sich so gut wie nicht bewegte, einem aber bei 34 Grad die Sonne direkt auf den Kopf knallte. Findige Verkäufer boten durch einen Zaun hindurch Wasserflaschen an, und da die Veranstalter anscheinend keine Illusionen über das Einlasstempo gehabt hatten, passierten wir in schneckenartiger Langsamkeit gelegentlich ein stinkendes Dixiklo.


Irgendwann hatten wir dann endlich den eigentlichen Einlass erreicht und durften wenig später ins Stadion. Dort ergatterten wir sogar Stehplätze, die nicht gerade bühnennah, aber doch besser waren, als uns die lange Schlange vor uns hatte hoffen lassen. Vor uns konnte man gut sehen, dass zum einen alles für die Vorband bereit stand und zum anderen die Bühne von seltsamen schwarzen Gartenpavillons geziert wurde. Einer schien sogar im Publikum zu stehen und versperrte sicherlich vielen die Sicht. Schnell stellte sich aber heraus, dass die Pavillons wohl nur ein Schutz für das U2-Equipment vor Erhitzung / Regen gewesen waren - sie wurden allesamt entweder vor oder nach dem Auftritt des Support Acts entfernt, und der, der ausgesehen hatte, als sei er im Publikum, zierte in Wirklichkeit eine per Steg erreichbare Zusatzbühne für den Hauptact.


Zunächst war es aber Zeit für Noel Gallagher. Dessen Bruder Liam, mit dem er bekanntlich meistens im Streit liegt, kommentierte das Engagement als Vorband von U2 anscheinend als bedenklichen Abstieg. Aber allein könnte keiner der Gallaghers ein Olympiastadion füllen. Noel begleitet die Band übrigens nur bei den europäischen Terminen, von denen der erste eine Woche vorher in London stattgefunden hatte. Damals hatten U2 ihren Support Act geehrt, indem sie als letzten Song in ihrem Set "Don't Look Back in Anger" von Oasis spielten - und Noel dazu auf die Bühne holten. Ob diese Aktion von Anfang an als einmalige Sache geplant war oder aber sich beide Bands doch nicht so gut verstehen wie erwartet, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Gemeinsame Auftritte gab es seitdem jedenfalls nicht mehr.


Noel selbst plant für November die Veröffentlichung seines dritten Albums, man hätte also mit neuem Songmaterial rechnen können - stattdessen spielte er aber eine verkürzte Version der Setliste, die er vorletztes und letztes Jahr bei seiner eigenen Tour präsentiert hatte. Einzige Neuerung war der Gitarrist: Gem Archer, als ehemaliges Oasis- und dann Beady Eyes-Mitglied, ersetzt mittlerweile den bisherigen Gitarristen der High Flying Birds, Tim Smith, und ist damit auch der einzige Mensch, der Mitglied aller drei Bands war...


Noels Band durfte ein Drittel der gigantischen LED-Wand von U2 nutzen, auf der zum einen die Band selbst, aber gleichzeitig auch Animationen gezeigt wurden. Gleich beim ersten Song, "Everybody's on the Run", schienen Buchstaben aus Noels Mund zu kommen, was ziemlich lustig aussah. Andere Visuals kannten wir bereits von früheren Konzerten - für mich war es immerhin das fünfte dieser Band (andere würden "erst" sagen)!

Abgesehen von dem Herrn im Pretty Green-Shirt in unserer Publikums-Nachbarschaft waren wohl wenige Konzertbesucher extra wegen der Vorband erschienen, und so zeigte sich stärker als bei den vorausgegangenen Einzelkonzerten, dass die Oasis-Songs in Noels Set deutlich bekannter waren und auch besser ankamen. Zunächst löste "Little By Little" besonders starken Applaus aus, anschließend lief "Wonderwall" noch besser, und bei "Don't Look Back in Anger" war die Begeisterung noch größer - immerhin wurde dieses Lied dieses Jahr ja auch als Anti-Terror-Hymne bekannt.


Wie bei separaten Tourneen von Noel Gallagher's High Flying Birds waren auch drei Bläser mit von der Partie, die bei "In the Heat of the Moment", "Riverman" und "Half the World Away" zum Einsatz kamen.

Noel sagte, wie man das bei ihm kennt, nicht allzu viel. Zu "Champagne Supernova" hatte er die Römer mit der Aussage "I know you can sing" zum Mitsingen aufgefordert, aber vielleicht überschätzte er hier die Bekanntheit des Songtexts - ich hörte zumindest nicht viele Zuschauerstimmen, was sich, wie erwähnt, bei späteren Oasis-Songs noch ändern sollte. "AKA... What a Life!" widmete Noel, wie glaube ich immer, seiner Frau und verabschiedete sich mit den Worten "See you some time next year!" Wie ich meinen Freund so kenne, sagte Noel in Bezug auf uns die Wahrheit.


Setliste:

Intro
Everybody's on the Run
Lock All the Doors
In the Heat of the Moment
Riverman B
Champagne Supernova (Oasis cover)
You Know We Can't Go Back
Half the World Away (Oasis cover)
Little by Little (Oasis cover)
Wonderwall (Oasis cover)
Don't Look Back in Anger (Oasis cover)
AKA... What a Life!



In der Wartezeit auf den Hauptact konnten Interessierte diverse Gedichte, Zitate und Geschichten lesen, die weiß auf schwarz über die riesige LED-Wand liefen. Ich wunderte mich etwas über die Amerika-Lastigkeit der Texte, bis mir reichlich spät auffiel, dass "The Joshua Tree" ja auch ein Amerika-lastiges Album ist.

Wir wussten bereits - die Konzerte der Tour sind jeweils gleich aufgebaut - dass der Auftritt drei Blöcke umfassen würde, nämlich zunächst ältere Songs, dann "The Joshua Tree" komplett und in Album-Reihenfolge und zuletzt noch einige Lieder aus der Zeit nach 1987. Überrascht wurden wir dagegen mit dem Auftritt der Band: Dieser erfolgte nämlich nicht vor der LED-Wand, die zwar als Silhouette den Joshua Tree vom Album zeigte, aber ansonsten zunächst ungenutzt blieb, sondern auf der "Vorbühne" im Publikum (die übrigens den "Schatten" des Baums auf der Bühne darstellte und die entsprechende Form hatte - das konnte man vom Innenraum aus aber natürlich nicht sehen). Zunächst betrat Schlagzeuger Larry Mullen Jr. die Bühne und begann mit dem Intro zu "Sunday Bloody Sunday", dann folgten die anderen Bandmitglieder nach und nach, passend zu ihren Einsätzen. Beleuchtet wurden die vier nur mit Spotlights, und während ich kaum etwas sehen konnte, waren die Begeisterung und der Jubel um uns herum ohrenbetäubend - in diesem Punkt haben Stadionkonzerte eben auch ihre Vorteile.


Auf der kleinen Vorbühne folgten noch "New Year's Day" und das relativ selten gespielte "A Sort of Homecoming" (das an dieser Stelle das am Vorabend gespielte "Bad" ersetzte), sowie "Pride (in the name of love)". Zu letzterem wurde auf der LED-Wand das bekannte Martin Luther King-Zitat eingeblendet, und Bono forderte die Menge mit "Cantate Roma!" zum Mitsingen auf. Auch weitere Ansagen Bonos erfolgten häufig auf Italienisch, was das Verständnis für angereiste Besucher wie uns natürlich erschwerte, aber generell eine nette Geste war.


Es folgte nun ein "Umzug" zur Hauptbühne. Der vorher nur schemenhaft sichtbare Baum - eine Referenz zur Tourneebühne von 1987 - war nun erleuchtet, doch als nun mit "Where the Streets Have No Name" das erste Lied des gefeierten Albums begann, wurde er durch den ersten einer Reihe von Filmen ersetzt, die Regisseur und Fotograf Anton Corbijn für die Tour produziert hatte. Bei Wikipedia las ich zwischenzeitlich, dass die LED-Wand mit 61 mal 14 Metern sowohl die größte als auch die hochauflösendste ist, die je bei einer Konzerttournee zum Einsatz kam, und es sah definitiv danach aus: Der Schwarzweißfilm aus der Perspektive eines Autofahrers auf einer endlosen Landstraße mit vereinzelten Fußgängern wirkte gestochen scharf. Zu den nächsten Songs, "I Still Haven't Found What I'm Looking For" und "With or Without You" ("The Joshua Tree" spart am Anfang nicht mit Knallersongs) gab es ebenfalls großflächige Landschaftsvideos - zum letztgenannten Lied gab Bono dem Publikum das Kommando "Sing your hearts out", dem vielfach gefolgt wurde.


Zu "Bullet the Blue Sky" fokussierte sich die Aufmerksamkeit mehr auf das live-Geschehen auf der Bühne, wo Bono mit einem Scheinwerfer agierte, während "Running to stand still" eine riesige Blaskapelle auf der Leinwand zeigte. Bei diesem Song und dem folgenden "Red Hill Mining Town" spielte The Edge übrigens Keyboard. Nach "Red Hill Mining Town", das im Rahmen der laufenden Tour erstmalig live gespielt wird, fragte Bono The Edge, warum U2 wohl 30 Jahre dafür benötigt hätten, bis sie diesen Song live spielen könnten. The Edges Antwort: "Because it took us 30 years to learn how to play it?" 


Beinahe zeitgleich verkündeten nun mein Freund neben mir und Bono auf der Bühne, dass die Platte jetzt umgedreht werden müsste - es folgte die B-Seite des Albums von 1987. Zu "In God's Country" erklärte Bono, Amerika stelle als Konzept für die ganze Welt ein Versprechen dar, nur sei dieses aktuell "kind of fucked". "One Tree Hill" wurde von einem irisch-italienischen Baum auf der LED-Wand begleitet, außerdem erzählte Bono, er seit mit italienischen Opern aufgewachsen, und U2 sei auch letztlich eine "Opera Band". 


Die Kritik an den USA der Gegenwart wurde fortgeführt durch einen Filmausschnitt vor "Exit": In einer Schwarzweiß-Westernserie aus den 50er Jahren trat ein Betrüger namens Trump auf, der versprach, eine Wand um ein Dorf zu bauen, um es vor einer angeblichen Apokalypse zu schützen. Für "Exit" selbst trat Bono als Prediger mit schwarzem Hut und Sakko auf. Das letzte Lied dieses Konzertteils war "Mothers of the Disappeared", das Bono allen widmete, die von uns gegangen sind. Hierfür wurde die LED Wand ein weiteres Mal für einen Schwarzweißfilm genutzt, der dieses Mal 18 Frauen zeigte, die still nebeneinander standen und Kerzen hielten und diese nach und nach ausbliesen - wieder eine sehr beeindruckende Kombination von Song und Bild, die an diverse Militärdiktaturen in Südamerika denken ließ.


Nun verschwanden U2 kurz von der Bühne und kehren wenig später in frischen Hemden zurück. Der jetzt folgende Teil fokussierte in seiner Botschaft klar auf Politik und soziale Ungerechtigkeit. Den Anfang machte "Miss Sarajevo", das im Original von Passengers stammt, einer Zusammenarbeit zwischen U2 und Brian Eno. Das Lied wurde eingeleitet mit einem auf der Leinwand gezeigten Interview mit einem syrischen Mädchen in einem Flüchtlingslager, das Amerika als sein gelobtes Land sieht. Während des Songs zeigte die Leinwand die Lebensbedingungen in dem Flüchtlingscamp, während auf den Zuschauerrängen überraschend ein riesiges Transparent mit einem Bild des Mädchens erschien und von den Zuschauern weiter gereicht wurde.

In "Miss Sarajewo" gibt es auch eine vom mittlerweile verstorbenen Tenor Luciano Pavarotti gesungene Passage, die beim italienischen Publikum für Sonderapplaus sorgte.


Nach "Beautiful Day", "Elevation" und "Vertigo", die ohne besondere Botschaft präsentiert wurden, aber wiederum hervorragend beim Publikum ankamen ("Vertigo" wurde sehr passend von schwindelerregenden psychedelischem Mustern auf der LED-Wand begleitet) folgte "Mysterious Ways", für das Bono eine Zuschauerin aus den vorderen Reihen auf die Bühne zog und bat, mit ihm zu tanzen, wobei er sie mit einer Kamera zu fotografieren schien. Die junge Frau war am Anfang sichtlich überfordert, plötzlich mit U2 vor Tausenden Zuschauen zu stehen, fing sich aber dann. Die LED-Wand zeigte einige der Fotos von Bono, die sich aber am Ende des Songs als Minifilme entpuppten, die dann alle gleichzeitig gezeigt wurden und die Zeile "she moves in mysterious ways" untermalten.


"Ultraviolet (Light My Way)" widmete Bono allen Frauen, und zu dem Lied wurden auch zahlreiche Frauen aus ganz unterschiedlichen Kontexten eingeblendet, die von der Band als Heldinnen empfunden werden, etwa die Suffragetten, Michelle Obama, Sophie Scholl, Anne Frank, Grace Jones, Patti Smith, Pussy Riot, Madleine Albright und auch Angela Merkel - sowie viele Namen verdienter Frauen, die ich überhaupt nicht kannte.

Auch der Abschlusssong "One" kam mit politischer Botschaft: Bono verwies auf die ONE Community, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Regierungen unter Druck zu setzen, damit die Lebensbedingungen weltweit fairer werden, oder, wie Bono sagte "so that where you live does not decide if you live". Das natürlich vielfach mitgesungene und gefeierte "One" war dann leider auch der letzte Songs des Abends. Während U2 bei anderen Tourstationen zum Abschluss manchmal noch einen neuen Song präsentieren, fehlte dazu an diesem Abend offenbar die Zeit - wir hatten auch bereits vorher "Mysterious Ways" gehört, das nicht zur Standard-Setliste gehört.


Nichtsdestotrotz gefiel mir das Konzert schon beinahe ärgerlich gut - ärgerlich deshalb, weil ich eben Stadionkonzerte eigentlich nicht sonderlich mag, nun aber doch Argumente dafür bekommen habe, gelegentlich einmal eines zu besuchen. Tatsächlich passten die Band, die Videos und das begeisterte Publikum perfekt zusammen, die visuellen Effekte und Überraschungen waren wunderbar und wer weiß, vielleicht gehe ich dann 2021 wieder mit, wenn es heißt "30 Jahre "Achtung Baby"".


Setliste:

Sunday Bloody Sunday 
New Year's Day 
A Sort of Homecoming 
Pride (In the Name of Love) 

Where the Streets Have No Name 
I Still Haven't Found What I'm Looking For
With or Without You 
Bullet the Blue Sky 
Running to Stand Still 
Red Hill Mining Town 
In God's Country 
Trip Through Your Wires
One Tree Hill 
Exit 
Mothers of the Disappeared 

Miss Sarajevo (Passengers cover) 
Beautiful Day 
Elevation 
Vertigo
Mysterious Ways   
Ultraviolet (Light My Way) 
One 


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